Günstige Eye-Tracking-Lösungen für mehr Teilhabe

Wir möchten Betroffenen von Motoneuron-Krankheiten oder von bewegungseinschränkenden Behinderungen günstige oder gar kostenlose Eye- und Head-Tracking-Lösungen zur Verfügung stellen. Unsere Arbeit ist ehrenamtlich. Unsere Soft- und Hardware ist quelloffen und kostenlos.

Inhaltsverzeichnis

Motoneuron-Krankheiten: Fortschreitender Verlust der Körperkontrolle

Motoneuron-Krankheiten (MND) sind neurologischen Erkrankungen, die die Nervenzellen betreffen, welche für die Steuerung von Muskelbewegungen verantwortlich sind. Sie führen zu einem fortschreitenden Abbau der sogenannten Motoneuronen, was Muskelschwäche, Lähmungen und schließlich den Verlust grundlegender körperlicher Funktionen wie Sprechen, Schlucken und Atmen zur Folge haben kann. Zu den bekanntesten Erkrankungen zählt die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Die genaue Ursache von MND ist oft unbekannt, jedoch können genetische Faktoren oder Umweltfaktoren eine Rolle spielen.

Erkrankte können sich kaum mehr mitteilen: Soziale Isolation und Probleme bei der Pflege sind die Folge

Eine der Folgen von Motoneuron-Krankheiten ist die Beeinträchtigung der Kommunikation. Durch Muskellähmungen verlieren Betroffene häufig die Fähigkeit zu sprechen oder zu schreiben. Im späteren Verlauf bleibt oft nur die bewusste Augenbewegung übrig.

Betroffene und Angehörige müssen nun kreativ werden. Kommunikation ist zum Beispiel über Ja-Nein-Fragen mit Blinzeln oder mit Kommunikationstafeln möglich. Dies erfordert jedoch Zeit und Geduld aller Beteiligten. Pflegepersonal, das ohnehin stark belastet ist, kann diese Zeit oft nicht aufbringen. Kommunikation muss unter Zeitdruck auf das Nötigste reduziert werden. Komplexe Sachverhalte zu klären ist unmöglich. Mal eben darum bitten, den linken Nasenflügel zu kratzen: Geht nicht.

Im Krankenzimmer entsteht dadurch ein Teufelskreis: Ohne eine Möglichkeit, Bedürfnisse, Schmerzen oder Ängste mitzuteilen, können Betroffene leicht übersehen oder missverstanden werden. Dies verstärkt das Gefühl von Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Der Verlust der Sprache ist dabei weit mehr als ein physisches Problem – er bedeutet für viele einen Verlust von Identität und Selbstbestimmung.

Die Versorgung von MND-Betroffenen muss deshalb weit über die medizinische Behandlung hinausgehen. Es braucht technologische und vor allem soziale Unterstützung, um ihre Kommunikation so lange wie möglich zu erhalten und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherzustellen. Nur so kann ein würdiges Leben trotz der Krankheit ermöglicht werden.

Eye- und Head-Tracking als Hilfsmittel zur Kommunikation

Eye- und Head-Tracking sind Technologien, die Bewegungen der Augen oder des Kopfes erfassen, um Geräte wie Computer oder Kommunikationshilfen zu steuern. Diese Systeme sind besonders für Betroffene von Motoneuron-Krankheiten von großer Bedeutung. Sie ermöglichen es, trotz Lähmungen interaktiv zu bleiben und sich auszudrücken.

Beim Eye-Tracking wird die Blickrichtung durch Infrarotkameras oder optische Sensoren erfasst. Diese Technologie erlaubt es, durch bloßes Hinsehen Texte zu schreiben, Menüs auszuwählen oder sogar komplexe Befehle an ein Gerät zu geben. Besonders bei MND-Betroffenen bleibt die Augenbewegung oft bis spät in der Krankheit erhalten. Eye-Tracking gibt ihnen so eine Stimme zurück, indem sie mit Sprachcomputern oder digitalen Plattformen kommunizieren können. Das Head-Tracking funktioniert ähnlich. Hier werden die Kopfbewegungen als Eingabemöglichkeit genutzt.

Diese Technologien ermöglichen nicht nur die Kommunikation mit Angehörigen oder Pflegekräften, sondern auch die Teilnahme an digitalen und sozialen Aktivitäten. Dies reduziert Isolation und steigert die Lebensqualität. Moderne Eye- und Head-Tracking-Systeme sind inzwischen präzise, benutzerfreundlich und können individuell angepasst werden. Sie eröffnen Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen neue Wege, um sich mitzuteilen und aktiv am Leben teilzuhaben.

Eye-Tracking aktuell: Zwischen zu teuer, zu technisch, oder zu unzugänglich

Eye-Tracking ist keine neue Technologie. Handelsübliche Smartphones und Laptops bieten schon lange die notwendige Rechenleistung. Auch an Software und Hardware mangelt es nicht. Jedoch haben die gebotenen Lösungen oft zu teuer, zu technisch, oder zu schwer zu finden.

Einige Anwendungsfälle und ihre Tücken

Zum Beispiel im medizinischen Bereich gibt es Eye-Tracking-Systeme für Betroffene von Motoneuron-Krankheiten: Ein Tablet mit speziellen Kameras wird am Rollstuhl befestigt und zielt auf eine einfache Benutzbarkeit ab. Die System kosten durch die medizinische Zulassung jedoch mehrere tausend Euro.

Auch die Marktforschung nutzt Eye-Tracker, um die Aufmerksamkeit der Testpersonen zu analysieren. Da für Marktforschung und Studien viel Geld ausgegeben wird, kosten entsprechende Lösungen auch viel Geld und haben eine sehr technische Bedienung.

Neuerdings hat die Videospiel-Community das Eye- und Head-Tracking für sich entdeckt. Für mehr Immersion können Spielerinnen und Spieler ihre Köpfe drehen, um sich in der virtuellen Welt umzusehen. Firmen bieten hier ihre Tracking-Produkte für mehrere hundert Euro an.

Eye-Tracking für kleines Geld im Internet zu finden

Jedoch wird viel getülftelt. Im privaten Bereich experimentieren viele Entwicklerinnen und Entwickler mit Eye-Tracking-Lösungen. Auf Plattformen wie GitHub werden Projekte kostenlos geteilt. Einige bleiben dabei Hobby-Experimente, andere reifen zu beliebten Großprojekten. Auch Bauanleitungen werden veröffentlicht und Baukästen werden für schmales Geld verkauft.

Es gibt natürlich auch im kommerziellen Bereich Ausnahmen, wo Software und Hardware günstig verkauft wird. So zum Beispiel eine Software für 30€, welches die Webcam des Laptops zum Tracken benutzt. Auch Smartphone-Hersteller fangen an, Eye-Tracking-Funktion in ihre Geräte integriert. Jedoch, und so ist es auch mit all den zuvor genannten Anwendungsfällen: Die Produkte müssen erstmal gefunden werden.

Wir wollen barrierefreie Eye-Tracking-Lösungen für alle

Wir sind Eyes on (Dis)Abilities, eine Kooperation zwischen Gaming and (Dis)Abilities und dem Chaos Computer Club Wiesbaden. Unser Ziel ist es, Eye-Tracking-Technologie zugänglich und kostengünstig zu machen. Wir möchten Software und Hardware finden, vereinfachen und verbreiten, damit Menschen mit Einschränkungen effektive Kommunikationshilfen erhalten – ohne hohe Kosten oder komplizierte Lösungen.

Wir arbeiten ehrenamtlich und setzen uns dafür ein, dass möglichst wenig Geld ausgegeben werden muss. Stattdessen schauen wir, welche Hilfsmittel bereits zuhause vorhanden sind und wie sie genutzt werden können. Ein einfacher Laptop, eine Webcam oder ein altes Smartphone in der Schublade können oft mit der richtigen Software zu leistungsfähigen Eye-Tracking-Lösungen werden.

Unser Fokus liegt darauf, bestehende Open-Source-Projekte zu unterstützen, eigene Ansätze zu entwickeln und diese zu teilen. Wir wollen Barrieren überwinden und möglichst vielen Menschen den Zugang zu dieser Technologie ermöglichen – ohne kommerzielle Interessen, sondern aus Überzeugung und mit Kreativität.

Auch du bist gefragt

Wir sind natürlich auch auf deine Hilfe angewiesen. Du hast Fragen oder Anliegen? Du hast Software und Hardware gefunden, die wir noch nicht aufgelistet haben? Du möchtest uns deinen Anwendungsfall schildern und brauchst einen Ratschlag? Oder du kannst programmieren und suchst ein Projekt? Dann schreibe uns gerne per eyes-on-disabilities@cccwi.de.

Software und Hardware

Unsere gesamte Liste an Software und Hardware, die wir im Zuge unserer Arbeiten gefunden haben, sind hier zu finden: (auf englisch):
https://github.com/eyes-on-disabilities/awesome-eye-tracking

Im folgenden zählen wir jene Projekte auf, die wir als besonders positiv aufgenommen haben.

OptiKey: Die Bildschirmtastatur

Webseite: https://optikey.org/
Typ: Software, Bildschirmtastatur
Kosten: kostenlos
Lizenz: Open-Source (GPL-3.0)

OptiKey ist eine Bildschirmtastatur, die speziell für die Steuerung durch Augenbewegungen entwickelt wurde. Sie bietet eine große Vielfalt von Oberflächen, von einfachen Satzkarten bis hin zu vollwertigen Tastaturen. Mit integrierter Sprachausgabe, präziser Maussteuerung und umfassender Unterstützung für verschiedene Eye-Tracker setzt OptiKey neue Maßstäbe in der Barrierefreiheit. Wer programmieren kann, kann zudem OptiKey um weitere Funktionalitäten sowie um weitere Eye-Tracker erweitern.

OpenTrack: Tracker-Schnittstelle, inklusive Head-Tracking-Software

Webseite: https://github.com/opentrack/opentrack
Typ: Software, Schnittstellenprogramm
Kosten: kostenlos
Lizenz: Open-Source (ISC License, mit Ausnahme mancher, proprietär lizenzierte Tracker)

Opentrack ist eine Software, die eine Vielzahl von Eingabegeräten zum Head- und Eye-Tracking mit Ausgabegeräten verbindet. Einige Tracker sind direkt in Opentrack integriert und benötigen keine zusätzliche Software, wie das Tracking mit druckbaren Codes.

AITrack: Head-Tracking nur mit der Webcam

Webseite: https://github.com/AIRLegend/aitrack
Typ: Software, Head-Tracker
Kosten: kostenlos
Lizenz: Open-Source (MIT)

AITrack ist eine Head-Tracking-Software, die lediglich mit einer einfachen Webcam die Kopfposition präzise erfassen kann. Es sind keine weiteren Hilfsmittel notwendig. Die Software überzeugt durch zuverlässige Leistung auch bei schlechten Lichtverhältnissen oder wenn das Gesicht teilweise verdeckt ist, etwa durch das Tragen einer Brille. Sie benötigt nur geringe Rechenleistung, sodass sie selbst auf älteren Computern flüssig läuft. Für mehr Flexibilität kann AITrack auf einem zweiten Gerät, etwa einem Laptop, betrieben werden, um die Tracking-Daten an den Hauptrechner zu senden. Selbst ohne Webcam ist die Nutzung möglich, da Smartphones als Kamera über die Droid Cam-App eingebunden werden können. AITrack kann als Eingabe für Opentrack fungieren.

Pupil: Eine (etwas technische) Eye-Tracking-Software

Webseite: https://github.com/pupil-labs/pupil
Typ: Software und Hardware, Tragbarer Eye-Tracker
Kosten: Software ist kostenlos. Hardware muss nachgebaut werden.
Lizenz: Open-Source (LGPL-3.0, GPL-3.0)

Pupil ist eine Eye-Tracking-Software. Um Pupil benutzen zu können, benötigt es eine Kamera – am besten eine Infrarot-Kamera – die vor dem Auge platziert wird. Pupil ist durch die sehr technische Benutzeroberfläche leider eine hohe Einstieghürde. Wer sich aber durch diese Oberfläche arbeitet bekommt eine sehr zuverlässiges Tracking-Ergebnis.

EyeTrackVR: Eigentlich für VR, bald auch für dich

Webseite: https://docs.eyetrackvr.dev/
Typ: Software und Hardware, Tragbarer Eye-Tracker
Kosten: Software ist kostenlos. Hardware ~25€, plus ~10€ für Kamera
Lizenz: Open-Source (GPL-3.0)

EyeTrackVR bietet Software und Hardware sowie Bauanleitungen für ein Eye-Tracking-System. Mit ausführlicher Dokumentation und kostengünstigen Lösungen auf Basis von Infrarot-Kameras und -Leuchten erfüllt es viele, wenn nicht alle unserer Anforderungen eines tragbaren Eye-Trackers. Wir sehen großes Potenzial in diesem Projekt und freuen uns darauf, es weiter zu erkunden und für unsere Zielgruppe weiterzuentwickeln.

Miranda (Noch in Entwicklung): Eine Tracker-Schnittstelle zur Kalibrierung

Webseite: https://github.com/eyes-on-disabilities/miranda-eye-tracking-screen-calibrator
Kosten: kostenlos, Schnittstellenprogramm
Lizenz: Open-Source (noch unklar)

Miranda ist, ähnlich wie Opentrack, eine Schnittstelle, die Eye- und Head-Tracker-Eingaben und -Ausgaben zusammenbringt. Der Fokus liegt hierbei auf der Kalibrierung der Eingaben auf den Bildschirm. Miranda ermöglicht eine nahtlose Integration mit anderen Anwendungen, sodass die kalibrierten Tracking-Daten vielseitig genutzt werden können. Zum Beispiel kann Opentrack oder Pupil als Eingabequelle dienen, die Tracker-Daten werden auf den Bildschirm kalibriert und dann an eine weitere Anwendung wie OptiKey weitergegeben. Einfach gesagt: Miranda bringt OpenTrack oder Pupil und OptiKey zusammen.

Noch mehr Software gibt es in unserer Awesome-Liste: https://github.com/eyes-on-disabilities/awesome-eye-tracking

Foren und Communities

Wer sich mit Gleichgesinnten austauschen möchte, kann sich auf den folgenden Webseiten versuchen. Leider sind die meisten davon auf englisch:

Firmen

Tobii AB (Website)

  • Produkte: Software und Hardware für Eye- und Headtracking, sowohl für den Gesundheitsbereich als auch für Privatpersonen. Die Tochterfirma Tobii Dynavox AB konzentriert sich auf unterstützende Technologien, z. B. Tablets mit integriertem Eye-Tracking, die am Rollstuhl befestigt werden.
  • Standort: Schweden
  • Umsatz: 758 Millionen SEK im Jahr 2023 (siehe Tobii Finanzberichte).

Pupil-Labs (Website)

  • Produkte: Eye-Tracking-Software und -Hardware, hauptsächlich für Forschungszwecke.
  • Standort: Deutschland

Weitere Anbieter:

  • Natural Point, Inc.: Bekannt für den TrackIR-Kopftracker (Website, TrackIR).
  • Eye Tech Digital Systems, Inc.: (Website)
  • Control Bionics: Wettbewerber von Tobii (Website).
  • RealEye: Studien mit Heatmaps, aus Polen (Website).
  • Xcessity: Aus Österreich (Website).
  • Eyevido: Aus Koblenz, von Tobii übernommen (Website).

Produkte

Ein Hinweis: Unser Ziel ist es, günstige oder kostenlose Eye-Tracking-Lösungen anzubieten. Wir möchten daher niemanden dazu ermutigen, eins der genannten Produkte zu kaufen, und stattdessen dazu ermutigen, erst günstigere Alternativen auszuprobieren. Aus Gründen der Transparenz möchten wir dennoch diese kommerziellen Produkte vorstellen, die wir gefunden haben. Die Liste enthält die neueste Version der Produkte. Die Vorgängerversionen könnten noch verfügbar sein. Ein Blick auf Verkaufsportalen und dem Gebrauchtwarenmarkt könnte sich lohnen.

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